Ich will Flügel, damit ich fliegen kann, wohin ich will (1)

dieser Beitrag ist Lara und ihrer Familie, der Gemeinde Großenlüder, sowie allen Personen, die diesem Menschenkinde beigestanden haben, in Hochachtung gewidmet.
Wie ein Mantra wiederholt der Großteil unserer Gesellschaft: „Der Tod ist ein Tabu.“ Und dann fügen viele von uns – und ich gestehe, ich zählte mich auch einst dazu – „Wir brauchen eine neue Abschiedskultur.“  Dank  meiner Profession werde ich oft durch Begegnungen mit Menschen zusammengeführt, die mich eines Besseren belehren.  Lassen Sie mich Ihnen von Lara und den Menschen erzählen, die diesem Kind nah standen und sie ganz persönlich am Ende ihres Daseins begleitet haben.  Abschiedskultur persönlich, würdevoll, in ihrer tiefsten, bewegensten und reinsten Form.

Lara, Foto Familie Putz

Die Siebenjährige,  ihre Familie und die Menschen ihrer Gemeinde zu begleiten, gehörte für mich zu den bewegendsten Augenblicken im Dasein meiner freiberuflichen Laufbahn.

Mitte September letzten Jahres schrieb mir Sandra, die Mutter der kleinen Lara,  eine Mail, in der es in etwa hieß:

„Meine Tochter Lara hat ihr 2. Leukämie-Rezidiv und wird wahrscheinlich sterben. Wann die Zeit des Abschieds kommt, weiß niemand. Das können Tage oder Wochen sein. Ich möchte für meine Zaubermaus eine besondere Abschiedsfeier.  Da wir ja, hoffentlich, noch etwas Zeit haben, könnte man ja noch was Schönes planen!? […]“

Wir vereinbarten einen Termin für einen Haubesuch, um Laras Lebensgeschichte zu besprechen, Ideen zu entwickeln und die nächsten Schritte zu planen. An einem sonnigen Septembertag in der Früh holte mich Sandra  vom Zug ab und wir stellten uns einander vor.  Während wir zu ihrem Auto gingen, betrachtete ich die schlanke, sportlich gekleidete Frau. Aus ihrem schmalen Gesicht und ihre Augen sprach eine tiefe schmerzvolle Wärme. „Die Abschiedsfeier soll in der evangelischen Kirche bei uns im Ort sein“, unterbrach sie meine Gedanken: „weil Lara sie kennt und gern dort war.“ Ihre geradeaus Haltung und ihre Fähigkeit, schnörkellosl zu benennen, gefielen mir.

Die Kirches als Abschiedsort

Wir beschlossen, zuerst in die Kirche zu fahren und sie zu besichtigen.  Das kleine Backsteingebäude mit dem großen Vorplatz schaute aus, als wäre es dem Himmel so nah, dass man nur die Hand ausstrecken musste, um die himmlischen Pforten zu berühren. Sandra meinte: „Sie sollen für Lara eine wundervolle Feier organisieren, ihre Geschichte erzählen und die Pfarrerin soll über Gott sprechen.“  Im wenige hundert Meter von der Kirche entfernten Eigenheim wurde ich zuerst der kleinen Lara und dann ihren Großeltern, Silvia und Bruno vorgestellt. Lara nahm mich äußerst distanziert wahr. Zart und zerbrechlich wirkte ihr von der Krankheit gezeichneter Körper auf mich, wie der eines Kleinkindes. Doch aus ihren großen braunen Augen funkelte das innere Leuchten einer reifen und uralten Seele. Wie gebannt schaute ich momentelang  in diese liebevollen, sprechenden Augen und in mir war das Gefühl, sie ahne warum ich da bin. Eine weitere Empfindung beschlich mich tief in meinem Herzen: Wir kennen uns, aus einem Leben vor diesem Leben  (ich glaube an die Wiedergeburt der Seele). Laras unbewusst gesendete Distanz wahrte ich selbstverständlich respektvoll. Beschützend schweigend saß Laras Opa neben ihr. Ebenfalls schlank, wie alle Menschen dieser Familie, sprachen aus seinen kraftvollen Augen der Schmerz und die Trauer des Abschieds, während seine Ausstrahlung Präsenz und Durchsetzungsvermögen signalisierten. Laras Großmutter Silvia, die mich mit ihrer herzlichen Begrüßung berührt hatte, machte sich derweil in der Küche zu schaffen. Sandra und ich zogen uns zurück.

Laras Bilder werden in der Kirche ausgestellt

Von allen Wänden und Türen lachten uns Laras selbstgemalte Bildern an.In Sandras Reich angekommen, versanken wir bald in der Welt der Erinnerungen und besprachen Laras Geschichte. Dieses Reflektieren soll die Betroffenen in der momentanen Situation unterstützen: für sich selbst Sinn in einer derartigen Herausforderung zu erkennen und  Kraft aus den gemeinsamen Erlebnissen für die gegenwärtige  Lage zu schöpfen, sowie die Grundlage für Rede in der Abschiedsfeier bilden. So saß ich da, hörte Sandra überwiegend zu, wie sie liebevoll über ihr kleines Zauberwesen sprach. Wir brauchten Zeit, denn im Zentrum der Aufmerksamkeit stand selbstverständlich Lara, zu der es die Mutti immer wieder zog. Für eine Weile gesellte sich die Pfarrerin der Gemeinde, eine sanftmütige Enddreißigerin zu uns. Sie hörte sich Sandras Wünsche an und wir kamen überein, gemeinsam eine Feier zu organisieren, die Laras Hiersein auf Mutter Erde würdigt  und die  ihrer Abschiedsgemeinde Raum gibt.  Nachdem sich Frau Schulte verschiedet hatte,  besprachen wir weitere Einzelheiten. Immer tiefer  tauchte Sandra in ihre Erinnerungen. Ein Augenblick Leben reihte sich an den Nächsten, wie kostbaren Perlen auf eine Schnur. Berührt hörte ich die Geschichte eines kleinen Menschen, der sich lernbegierig über alle Hindernisse hinweg seine kleine Welt erobert hatte.  Sich über die sieben Jahre, trotz aller Krankheit,  sein sonniges Wesen bewahrte hatte.  Getragen von der Hoffnung und der Gewissheit der Familie, dass  Lara gesund werden würde.  Auf ihrem Lebenspfad begleitete ein Herzenswunsch das Kind:

Ich will Flügel, damit ich fliegen kann, wohin ich will

Selbst Flügel zu haben war Lara wichtig. In einem Ballon oder einem Flugzeug zu fliegen, dass fand die kleine Dame langweilig. Lara liebte pink über alles, verkleidete sich für ihr Leben gern, betete Feen und Elfen an und eiferte ihrem Vorbild, der mutigen Prinzessin Lillifee nach.  Wenn sie eins der Kostümchen aus ihrem Kleiderschrank holte, dann war sie am liebsten eine Prinzessin. Wenn sie dann zurückkam aus ihrer Zauberwelt, dann malte sie ihren Kosmos aus ihrer Sicht in hellen, bunten Farben. Und wie zur Bestätigung zeigte mir Sandra weitere von den ungezählten Werken der kleinen Künstlerin. Dabei wurde die unglaubliche Schaffenskraft dieses Kindes sichtbar,  bei der jeder Künstler sicherlich vor Neid erblasst wäre. Sie malte sich selbst in rosa, die Mama, ihre Freundin Charlotte, den Opa, die Oma, die Uroma und den Uropa, den Onkel Ingo und die Tante Samira, die Sonne, Tiere und Fabelwesen, den Regenbogen, die Menschen, die zu ihr gehörten und immer wieder Prinzessin Lillifee. Dass sie auch in einem rosafarbenen Ballettröckchen zur Balettstunde gehen konnte, freute das anmutige Wesen, denn dort lernte sie mit Leichtigkeit Priroetten drehen, zu tanzen und sich auf diesem Weise dem Himmel ein Stück näher zu fühlen […]

[ hier geht es zu Teil 2 der Geschichte ]

Teilen erwünscht

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Newsletter abonnieren
Newsletteranmeldung

BiographinIW

Irene Wahle

Archiv

Ihnen haben meine Beiträge gefallen? Dann nutzen Sie meine Wunschliste auf Amazon. zur Wunschliste>>