Freitod eines Managers
Vor ein paar Tagen las ich über eine Xing-Meldung in der „Zeit“ einen brilliant recherchierten und geschriebenen Bericht über den Tod des einstigen Starmanagers Heinz – Joachim Neubürger. Bis dato war mir dieser Mann unbekannt, genau wie der Bestechungsskandal, der den renommierten Siemens-Konzern in seinen Grundfesten erschütterte. Das aus Gründerzeiten des vorletzen Jahrhunderts stammende Unternehmen blieb neben einem Vermögensschaden von 2.500.000.000,00 Euro mit einem angekratzten Image zurück, wie ich dem Artikel entnahm.
Die Unternehmensleitung zog mit einer
Schadensersatzforderung Manager, darunter auch Herrn Neubürger, zur Verantwortung. Der Rechtsstreit wurde 2014 durch eine Einigung mit Siemens und mit einer Zahlung Neubürgers in Höhe von 2,5 Millionen Euro ohne seine Schuldanerkennung beigelegt. Ein strafrechtlichen Prozess unterblieb. Neubürger zahlte 400.000 Euro für wohltätige Zwecke, die staatsanwaltlichen Ermittlungen wurden eingestellt. Das war im Jahr 2014. Dann rollte eine neue Lawine auf den einst hoch Dekorierten zu. Und das in Form einer neuen Bestechungsaffäre, diesmal aus Richtung Griechenland kommend. Das brachte, in den Bereich der Mutmaßungen gehend, das Fass zum Überlaufen. Herr Neubürger sah nur noch einen Ausweg. Am 5. Februar 2015 sprang er in den Freitod.
Ich muss sagen, ich habe selten einen Zeitungs-Artikel so gebannt gelesen, wie diesen. Es ist der Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen und der Persönlichkeit eines Menschen auf Augenhöhe gerecht zu werden. Aber auch ein gelungener Nachruf, der die Lebensleistung eines Menschen würdigt. Eine Berichterstattung die sich bemüht, hinter die Fassade von Aufstieg und Niedergang eines Menschen zu blicken. Und die uns auffordert, zwischen die Zeilen zu blicken und das Ungesagte zu hinterfragen. Die ganz fein gestreute Antworten auf das – Warum? – gibt.
Wenn ich in das Bild seines Freitodes gehe
– Herr Neubürger stürzte sich von einer Brücke aus 31 Metern in die Tiefe – , dann zeigt mir der Verstorbene damit eine der Antworten auf das Warum: Sein Sturz symbolisiert für mich den Sturz eines mannischen Arbeiters von seinem beruflichen Olymp in ein ihn zerschmetterndes Nichts. Und das nach einer Bilderbuchkarriere, die mit einer Ausbildung zum Exportkaufmann begann, sich über ein Studium an der französischen Universität Insead und einer zehnjährigen Tätigkeit für eine für eine Investmentbank entfaltete. Eine steil nach oben gerichtete Entwicklung, die 1989 mit seinem Beginn bei Siemens anfing fortsetzte. Zehn weitere Jahre brauchte es noch, bis er seinen beruflichen Olymp als Finanzvorstand des Konzerns erreichte.
Heinz- Joachim Neubürger wurde in ein Zeitalter hineingeboren, indem die weibliche Seite überwiegend in den Ehepartner ausgelagert wurde. Seine zwei Ehen künden davon.
Mit weiblicher Seite meine ich weniger ein Geschlecht, die Eigenschaften die uns Frauen zugeschrieben werden. Die wir aber letztlich alle brauchen, um ein ausgewogenes Leben zu führen. Wie bespielsweise: Schwäche zeigen dürfen, zu empfangen, auszuruhen, unsere Wunden und Kratzer anzuerkennen, zu heilen und das Nest zu behüten. Unserem Unbewussten Raum in unserem Leben zu geben und vieles mehr.
Nur zu arbeiten und den Verstand als das non plus Ultra anzusehen ist ein Irrglauben. Genau wie der Glaube, wir könnten nur mit unserem Willens die Welt zu kontrollieren und haben über alles die Macht. Nur die starke, männliche Seite in uns allen zu domestizieren kann nur im Desaster enden. Der Tod ist dann der letzte Ausweg, doch noch die Kontrolle über alles zu behalten. Wie tragisch!
Der Bericht schließt mit drei Bitten der Töchter ab.
Bitten, die nur hauchzart den Schleier hinter den Kulissen öffnen und doch so viel über diese mehr als 2 Jahrtausende gängige Rollenverteilung und deren Auswirkungen auf alle Beteiligten erzählen. Was scheinbar Gewinn ist, wird zum Verlust. Nur da wo wir in Harmonie mit dem Ganzen sind, entsteht auf Dauer Gewinn für alle Beteiligten.
Mein Mitgefühl den Angehörigen.
P.S. Jährlich wählen ungefähr 10.000 Menschen den Freitod.
Siebzig Prozent von ihnen sind Männer und 3.000 von ihnen Menschen unter 40 Jahren. Die meisten Menschen, die freiwillig den Tod wählen, wollen eigentlich leben. Aber ihnen fehlt eine Perspektive für ihr momentanes Leben. Hilfe ist unbedingt erwünscht.“
(Quelle Freunde fürs Leben e.V.)
„Wer in einer für verzweifelten Situation steckt sieht im Freitod einen Ausweg, dieser Ausweglosigkeit zu entrinnen. Die Erfahrung lehrt: von zehn suizidgefährdeten Menschen sprechen acht in unmissverständlichen Zeichen und Worten. Nehmen Sie diese Anzeichen ernst, wenn Sie davon Kenntnis erlangen. Werden Sie aufmerksam, wenn jemand aus Ihrem Umfeld nach emotionalen Zeiten plötzlich sehr gelassen wird. Verschenkt dieser Mensch plötzlich Dinge an denen er eigentlich hängt? Spricht er davon, genug von allem zu haben?
(Quelle: Arbeitskreis Leben)
P.P.S. „Ich kenne dieses Gefühl am Ende allen Seins angekommen zu sein. An einem Kreuzweg, an dem alle Perspektiven fehlen. Und ich gehörte zu jenen zweien von 10 Freitod-Gefährdeten, die die Dinge lieber still mit sich ausmachten. Mein Vater hatte ein Jahr zuvor oft von seinem Freitod gesprochen, der für ihn die Lösung aus seinem unerträglichen Leiden sein sollte. 1998 steckten Patientenverfügung und ein würdevolles Sterben zu Hause noch in den Kinderschuhen. Wir alle haben seine Entscheidung akzeptiert und er setzte seinen Wunsch an einem schönen Augusttag auf ähnlich- drastisch-furchtbare Weise in die Tat um, wie Herr Neubürger. Vielleicht war es auch der Wunsch meinem Vater nachsterben zu wollen, der gepaart war mit meiner eigenen Ausweglosigkeit, der mir diese Idee eingepflanzt hatte. Und ganz sicher war es meine tote weibliche Seite, die darauf hoffte, durch diese Maßnahme wieder belebt zu werden.
Gottlob hat mein Umfeld „unbewusst verstanden“ und auf mich aufgepasst. Solange, bis ich selbst die Entscheidung getroffen habe:
‚Ich will leben und ein glückliches und zufriedenes Leben führen.‘
Danach öffneten sich alle Türen in mir, ich bekam alle Unterstützung die ich brauchte und viele glückliche Fügungen geschenkt. Heute lebe ich ein reiches und erfülltes Leben. Der Weg entfaltet sich aus mir. In diesem Sinne wünsche ich allen Menschen, die den Gedanken hegen, freiwillig zu sterben:
‚Lernen Sie um Unterstützung zu bitten. Sie ist da, denn: Bitte und es wird dir aufgetan.‘
Aber genauso lehrte mich mein Weg:
‚Es ist gut, Unterstützung anzubieten und wunderbar, wenn diese angenommen wird. Aber akzeptieren wir, wenn unsere Mitmenschen ihren Weg wählen.'“
(Biographin Irene Wahle)
Weiterführende Links
Die Zeit – Tod eines Managers
Die Lebens-Zwischen-Bilanz –
Alternative, um Mann oder Frau einen Frei-Raum zu schaffen, indem er oder sie aus dem HamsterRad aussteigen und durch den Abstand von allem mit Zeit und Raum die Dinge neu zu überdenken.
Unterstützung für Angehörige und Betroffene bietet:
AGUS
Einsame Spitze – Manager am Limit
über die Einsamen an der Spitze oder die Illusion von Kontrolle und Macht. Ein Phänomän unserer Zeit. Selbst diese Spitzenmanager sind bei den anderen unterwegs als bei sich. Achten Sie mal darauf, wie sie über sich sprechen in der dritten Person und in man – Form. In der biographischen Arbeit wird diese Art und Weise genutzt, wenn alles so schlimm ist, dass die dritte Form den Abstand zu sich selbst ermöglicht. Ins über sich, also in die ICH – Form kommen dann die Manager, die angefangen haben an sich zu arbeiten. Und in diesem Sinne bei sich angekommen sind.
Focus online
Depressionskranker erzählt: In der Psychatrie sitzen ganz normale Menschen
Spiegel online
Krankheit Depression: Keine Frage des Zusammenreißens
Der Durchbruch
Wenn eine innere Struktur zusammen gebrochen ist und eine neue entsteht
Welttag der Suizidprävention
Um die Öffentlichkeit auf die Problematik des Freitodes aufmerksam zu machen wird alljährlich, seit dem 10. September 2003, der Welttag der Suizidprävention veranstaltet. Der Welttag der Suizidprävention wurde von der International Association for Suizide Prevention (IASP) und der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgerufen.
Der Hamburger Fotograf, Designer und Trauerbegleiteter gestaltete als Bildender Künstler rund um den Welt Suizid Präventionstag eine Ausstellung im Südschiff der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg. Für diese zentrale Veranstaltung im Norden ist die Stein-Lichter-Spirale zum Synonym geworden. Er installiert sie immer wieder neu. Für jeden (offiziellen) Suizid Verstorbenen Hamburgs liegt dort ein Licht und ein Stein – stellvertretend für alle Menschen die diesen Tod gewählt haben.
Danke für das Sichtbarmachen dieser persönlichen aber auch kollektiven Tragödie des gefallenen Managers, der doch eigentlich ’nur‘ das Spiel der Gesellschaft mitgemacht hat. Es wird immer wichtiger, dass Menschen auch über Ihre Stürze schreiben, damit andere den Mut haben neue Wege einzuschlagen und eine Corporate Excellence Evolution zu leben. Liebe Grüsse aus Wien 🙂
Lieber MiSha, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich bin ganz mit dir, dieses vorleben ist wichtig: Aber ich denke auch, das unsere Mitmenschen Authenzittät spüren und suchen. Mögen es immer mehr Menschen werden, die geistig erwachen und neue Wege aus der alten „kollektiven Tragödie“ suchen, wie du es so treffend beschrieben hast. Viel Erfolg auf deinen Wegen.
Mit guten Grüßen
Irene