25 Jahre DDR und 25 Jahre Mauerfall
25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen … und das Land in dem ich 25 Jahre meines Lebens verbrachte, scheint mir wie ein Land vor dieser Zeit und surreal.
Und das, obwohl ich bis zum Frühjahr 1989 dachte, dass es ein grenzenloses Leben zwischen BRD und DDR niemals geben kann.
Als gleichförmig fließend von der Wiege bis zur Bahre
empfand ich es.
Mein Weg war vorhersehbar.
Zu den Grundpfeilern meines Daseins gehörten folgende Gedanken:
Ich bin hinein geboren in einen Staat in dem die Arbeiter und Bauern an der Macht sind.
Wir alle bekommen eine exzellente Schulbildung.
Die Grundnahrungsmittel gibt es immer.
Schicke Sachen gibt es im Exquisit.
Alles ist Mangelware. Leider auch Bananen und Orangen.
Berlin ist die strahlende Hauptstadt, in der es mehr gibt als anders wo.
Wo Wege anfangen und aufhören bestimmen andere.
Reisen führen nur in den politischen Osten.
Wenn ich Rentnerin bin, kann ich in den Westen reisen.
Wir DDR – Bürger halten zusammen und haben gelernt aus Schei.e Bonbons zu machen.
Intellektuelle werden gebraucht. Aber ihre Arbeitskraft zählt trotz intensiver Ausbildung nur die Hälfte.
Meinungsfreiheit ist tabu.
Die Arbeit ist gesichert und ich brauche nie Existenzangst haben.
Zwischen den Zeilen schreiben und lesen.
Die Freie Deutsche Jugend ist die Jugendorganisation und baut auf.
Wehrkundeunterricht gehört zum Schulunterricht im Staate des Friedens, der mit Waffen verteidigt werden muss.
Frauen sind gleichberechtigt. Aber wie überall sind manche Menschen gleicher als gleich.
Politische Witze grassieren und ich merke sie mir. Wie zum Beispiel den:
„Woran erkennt man beim Weltuntergang, dass die DDR untergegangen ist?“
… „An der Stelle schwimmen die meisten Solimarken.“
(Anmerkung: Solidaritätsmarken waren eine Zwangsabgabe für die, die im FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund)
Die Stasiakte wächst und gedeiht, wenn man wie ich im Sicherheitsbereich arbeitet und Familienmitglieder in den Westen gegangen sind.
Lebenslange Repressalien – versperrte Ausbildungs- und Berufswege – folgen, wenn Familienangehörige in den Westen abdrifteten. Hausdurchsuchungen muss man erdulden.
Doch alles in allem ist das wirtschaftliche Überleben gesichert, wenn man sich an die Vorgaben hält.
Das und vieles mehr war mein Alltag.
In dieses Land bin ich hinein geboren und das war meine Realität. Ich nahm sie an und fühlte mich trotz allem in diesem Land zu Hause, suchte und fand meine Lücken, die mir mein Leben angenehm machten. Das sich daran etwas ändern könnte, lag jenseits jeder Vorstellung,die ich hatte.
Dann der Sommer 1989
Jene Zeit als geflüsterte, gehauchte Botschaften sich verbreiteten wie ein Lauffeuer:
„Du, hast du schon von diesen Für- Bitt- Gottes- Dienste am Montag gehört? Da soll der Pastor Gauck richtig Tacheles reden. Über Freiheit. Gedanken, die wir alle kennen und die sich bisher niemand traute öffentlich auszusprechen. Oder gar von der Kanzel zu predigen.“
Ich spitzte die Ohren, hörte hin und hörte zu. Während ich nachdachte, hatte schon wieder jemand in dem Zug, in dem ich mich damals gerade befand, eine Information.
„Und stellt euch vor. Hinterher gehen die Leute demonstrieren. Still mit Kerzen. Ohne wie bei den sonstigen Demos lautstarke Parolen über Frieden und Sozialismus in die Lande zu grölen.“
Als damals überzeugte Atheistin hatte ich mit der Kirche wenig am Hut, doch ich ging hin und öffnete mich dem, was der Pastor JoachimGauck da in der Marienkirche in Rostock zu sagen hatte. Ich war so berührt, dass es mir noch heute regelmäßig eine Gänsehaut verpasst, wenn ich an diese Momente zurück denke.
Anfangs waren wir wenige und viele Kirchenbänke blieben leer
Von Woche zu Woche füllten sich die Reihen, bald war die Kirche voller Menschen und wer zu spät kam, musste mit einem Stehplatz vorlieb nehmen. Bald war auch der letzte Stehplatz belegt und die Leute versammelten sich vor den Toren der altehrwürdigen Rostocker Kirche.
Lautsprecher wurden montiert, aus denen klar des Pastors Stimme zu vernehmen war.
Gebannt lauschten wir den Reden des Predigers, einem charismatischen Mann, der später der Behörde vor stand, die sich mit der Aufarbeitung der Stasiakten beschäftigte und der eines Tages der 11. Bundespräsident der BRD werden sollte. Seine warmherzige, mutige und kraftvolle Stimme zelebrierte mit Gottes Worten, Worten großer Denker wie Rosa Luxemburg und seinen eigenen Gedanken die Freiheit, die wir uns wünschten.
Er nannte das Kind beim Namen und äußerte Gedanken, die wir DDR Bürger sonst nur leise hinter vorgehaltener Hand in Kreisen von Menschen, die wir kannten, äußerten.
Immer wieder rief der Pastor wie alle Pastoren zur Gewaltfreiheit auf, war in allem für etwas.
In diese Predigten fügte sich die Fürbitte für politisch Inhaftierte; für alle Menschen die Kraft und Liebe benötigen; für die Regierenden und vor allem für eine friedliche Lösung der sich zuspitzenden Konflikte.
Diese Auseinandersetzungen wurden mittlerweile zu tiefen Gräben, die sich zwischen uns,
dem Volk und unseren Regierenden, auftaten. Die SED, die führende Partei unseres Staates, war in sich selbst erstarrt und hatte sich von uns entfremdet. Eine Regierung, die ja eigentlich für ihr Volk da sein sollte, verstrickte sich tief in ihre eigenen theoretisch propagierten und an den Universitäten gelehrten philosophischen Weltanschauungen:
„Widersprüche sind die Triebkraft der Entwicklung“,
hielt Marx einst als eines der drei philosophischen Grundgesetze fest. Doch die Widersprüche wurden bis dato im Keim erstickt. „Quantität verändert Qualität“ lautete ein zweites Gesetz. Auch das wurde missachtet und so füllten sich die Kirchen, die damals den Raum für Veränderungen boten.
Auch ich kam jeden Montag wieder und wollte mit meiner Quantität die Qualität verändern und die Widersprüche durch Entwicklung auflösen helfen.
Am Ende jedes Gottesdienstes zündeten wir Kerzen an
und demonstrierten wie überall im Land. Über eine festgelegte Strecke zogen wir durch unsere Stadt. Seltsamerweise beschützte uns die Polizei, riegelte die Wege ab. „Stasi in die Volkswirtschaft“ war hin und wieder etwas lauter zu vernehmen.
Wenn wir die Augustenstraße erreichten, wurde es still. So still, dass man glaubte, die Blätter an den Bäumen rascheln zu hören. In die Dunkelheit des Abends und in die leise Ahnung, dass sich hinter Zäunen, Hecken und Büschen Schafschützen verbargen, die auf ihren Schießbefehl warteten, mischten sich hoffnungsvoll die leuchtenden Strahlen unserer Kerzen.
Das machte uns Mut und half uns einen Schritt weiter zu gehen und dann noch einen Schritt weiter. So weit, bis der Zug, der sich im Laufe der Wochen in eine endlos wirkende Menschenschlange verwandelt hatte, vor einem braun rot verputzten, mehrstöckigen Haus zum Stehen kam: Dem Hauptquartier der Staatssicherheit unseres Bezirkes.
Die vielen Fenster des Gebäudes waren jedes Mal verdunkelt. Das wirkte auf mich, als sie
der Krieg ausgebrochen und die Bewohner dieses Domizils wollen sich vor Bombenangriffen schützen. Nach und nach löste sich ein Mensch nach dem anderen aus dem Zug und trug seine Kerze auf die oberste, breite Stufe der Treppe, die zum Haupteingang des Hauses führte. Dann stellte er oder sie die Kerze dort ab, verweilte für Momente dort und kam dann zur Gruppe zurück. Berührt schauten wir jedes mal zu, wie sie die profane Betonstufe vor unseren Augen in einen Altar aus hunderten, sanft im Wind flackernden Lichtern der Hoffnung verwandelte.
Eine Botschaft der Herzen für Herzen.
Wir alle spürten in diesen stillen Momenten etwas in uns allen, dass größer war als wir selbst. Das uns Vertrauen gab und Hoffnung in unseren Herzen säte und uns ein Verständnis dafür vermittelte, welche Kraft in friedvollen Gedanken und Handlungen liegt.
Am 09. November, vor fünfundzwanzig Jahren, öffnete sich die Mauer.
Auch wenn mir damals der Glaube an eine höhere Macht fehlte, sage ich aus der heutigen Reflexion:
„Unsere Gebete wurden erhört.“
Das ich diese einzigartigen Stunden miterleben durfte ist für mich ein kostbares Geschenk.
Gehört für mich zum Reichtum meines Lebens. Ich bin froh, das die Kraft unserer gemeinsamen Gedanken und Gebete eine Mauer zwischen Ländern zum Einsturz brachte und uns in eine Gesellschaft führte, die jedem Einzelnen von uns die Chance bietet, sich auf seinem persönlichen Weg zu entfalten, wohin ihn dieser auch immer führen möge. Eingeschlossen aller glücks- und leidvollen Momente, die damit verbunden sind.
Mich persönlich lehrten die Sommer- Herbst- und Wintermonate
des Jahres 1989 darauf zu vertrauen,
dass das Unmögliche möglich wird, wenn ich: wünsche, bitte und glaube.
Mein großer Dank gilt Joachim Gauck für sein leuchtendes, authentisches Beispiel in jenen Tagen. Er ist für mich ein Vorbild eines Menschen, der seinen Glauben lebt.
P.S. Die Fürbittgottesdienste hatte der heutige Bundespräsident
Joachim Gauck gemeinsam mit vielen anderen gläubigen Menschen organisiet.
Einer von diesen war Pastor Henry Lohse, der zusammen mit Joachim Gauck die Innenstadtgemeinde Rostock betreute.
Damals im Herbst 1989 und bis zum Tag, als er seine Robe an den Nagel hängte, war er wie eine graue Eminenz im Hintergrund. Ein starke Persönlichkeit, die um sich selbst wenig Worte macht, ein Fels in der Brandung ist und da ist, wen er gebraucht wird.
Im 89 Jahr war mir Henry Lohse unbekannt. Ich lernte ihn durch die Rostocker Kunstnächte kennen, die wir gemeinsam organisierten.
„Was einer ist und einer war, wird oft im Scheiden gewahr“, sagt ein altes Sprichwort. Und genau das spürte ich am 26. Juni 2012. Es war der Tag, an dem Henry Lohse in den Unruhestand ging. Zu den gratulierenden Verabschiedern gehörte auch Joachim Gauck. Eine unglaublich herzliche Begegnung zweier charismatischer Männer, die von der gemeinsam durchlebten Zeit und großer Achtung voreinander sprach.
In diesem Sinne möchte ich an dieser Stelle auch Ihnen danken Henry Lohse.
Segen allen Menschen auf Ihren Wegen, die mit Mut und Charisma voran gingen, um den Weg in eine neue Zeit zu bereiten
Weiterführende Links
Der 11. Bundespräsident
ist der 1940 in Rostock geborene Joachim Gauck
Über einen bewegten Unruhestand
„Ruhestandspastor Henry Lohse: Unser Mann in Florenz“
Marienkirche Rostock
Überseehafen Rostock
Liebe Frau Wahle,
Ihre tiefreichende Rückschau und Ihr Dank gefallen mir sehr!
Herzliche Grüße
Evelyn Kuttig
Liebe Frau Kuttig,
vielen Dank für Ihr Feedback.
Herzliche Grüße BiographinIW
Danke, Frau Wahle, für Ihren Einblick in die damalige Zeit. Ich habe als Wessi den Mauerfall und die gigantische Aufbruchstimmung sehr intensiv erlebt – und auch später die Ernüchterung und die verpassten Chancen. Trotzdem war’s gut und richtig, was passierte.
Beste Grüße aus der Ukraine, wo gerade ein neue Mauer gebaut werden soll. (siehe Artikel auf meiner Webseite)
Hans-Dirk Reinartz
Lieber Doktor Reinartz,
vielen dank für Ihren reflektierenden Kommentar.
Mit der Ernüchterung kann auch ich verstehen. Die 90ziger Jahre waren auch für mich persönlich eine harte Zeit, die mich enttäuscht und krank zurück gelassen haben. Persönlich als auch gesellschaftlich gesehen.
Aber gerade diese totale Ernüchterung, der Zusammenbruch alter Strukturen in mir hat den Aufbruch in die neue Zeit aus mir heraus ermöglicht. In diesem Sinne glaube ich, dass alles was uns geschieht eine Chance zu wachsen und zu reifen ist.
Und diese Prozesse macht, wie schon in meinem Blogbeitrag beschrieben, diese Gesellschaft möglich. Und dafür bin ich zutiefst dankbar.
Ich glaube auch daran und beobachte die Zeichen, dass momentan ein weltweiter Bewusstseinswandel stattfindet.
Ganz erfreut saß ich gerade in der Deutschen Bahn und nahm deren Magazin in die Hand.
Mobil, so der Name des Magazins, titelte in seiner
GRÜNEN AUSGABE
„Die Veränderung der Welt ist nur herbei zu führen …“
Um den Rest dieser Aussage zu erfassen, musste ich das Heft aufschlagen. Blickte dann in das wie selbst zu einem Bergmassiv gewordene Gesicht von Reinhold Messner und las …
„… wenn sich jeder Einzelne verändert.“
Sehr zu empfehlen diese Ausgabe, in der sich der Extrem- Bergsteiger mit dem DB-Chef Rüdiger Grube zu einem Gipfelgespräch trifft.
Und zu diesem Durchbruch in eine neue Zeit gehört bestimmt auch das was Sie beschreiben Dr. Reinartz – Der Aufbau neuer Mauern –
Aber Mauern werden gebaut und fallen.
Was bleibt ist Geist, der sich hoffentlich zum Positiven verändert.
Ihnen eine wunderbare Zeit, beste Gesundheit dem Gesundheitslostsen und viel Erfolg in ihrer Profession
Biographin Irene Wahle
Pingback: Verehrter Herr Bundespräsident: ich bin irritiert | Blog von Biographin Irene Wahle
Hallo, Frau Wahle
ich schaue mir ab und zu mal Bilder Google an, heute habe ich Überseehafen Rostock eingegeben und fand Ihr Foto von 1984, Ihr Schreiben von DDR-Zeiten und das Sie mal in Überseehafen als Sachbearbeiterin gearbeitet haben und dieses Gesicht kam mir bekannt vor, ich dachte Mensch die kennst du doch – ich habe nämlich auch damals im Überseehafen gearbeitet mein Mädchenname ist Angelika Mattscheck – ich war allerdings erst Zähler in 6 und 8 (8 damals neu gebaut Bananen,Schweinehälften und Auto’s), in 6 war es mehr Schüttgüter unser Meister war ich glaube Fred hieß er, er hatte einen kanken Arm. Als mein Sohn Martin 1985 geboren wurde (Vater übrigens Heinrich Harms arbeitete auch im Hafen) fing ich nach dem Mutterurlaub in der Betriebsakademie im Stadthafen als Sachbearbeiter an – na,ich bin gespannt ob ich richtig liege und wir uns damals kannten ???
Angelika Schöning
Hallo, Frau Schöning,
was für eine schöne Überraschung! Auf diese Weise etwas aus „grauer Vorzeit“ ins Jetzt zu holen. Für alle Uneingeweihten. Mit 6 und 8 sind die Kai – also die Lagerhallen des Überseehafens gemeint.
Ihr Name sagt mir ganz leise etwas. Aber ein Bild fehlt mir …
Der Meister mit dem kranken Arm sagt mir auch was …
Wenn Sie wollen senden Sie mir per PN (biograhie@irene-wahle.de) mal ein Bild. Damit könnten Sie meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Wie haben Sie denn damals die Wende empfunden?
Waren Sie auch nach der Wende noch im Überseehafen?
Was ist heute aus Ihnen geworden?
Mit guten Grüßen
Biographin Irene Wahle