Eine Geschichte über Rosen und die Liebe

Es gibt eine Geschichte von Rainer Maria Rilke, die mich für eine außergewöhnliche Aktion inspirierte. Der vierte Advent scheint mir der passende Moment zu sein,  um sie Ihnen zu erzählen.
Es war einmal, so fangen alle Märchen an … Geschichten aus uralten Zeiten, die unser Erfahrungswissen weiter tragen, damit wir es noch heute nutzen können. Und so möchte ich auch meine Geschichte beginnen…
Es war einmal eine junge Frau, die las bei einem ihrer Lieblingsautoren, Rainer Maria Rilke, eine schöne Geschichte …

Bettlerin, Barlach Galerie Wimmer

Bettlerin, Ernst Barlach – Galerie Wimmer

Über eine Rose und die Liebe

Rilke weilte wieder einmal in Paris und wie jeden Tag führte ihn sein Weg an einer Bettlerin vorbei. Die zerlumpte Gestalt kauerte auf der blanken Erde, richtete ihren getrübten Blick stumm in die unendliche Tiefe von Mutter Erde, während sie eine Hand ausstreckte, um um eine milde Gabe zu bitten. Viele Leute eilten vorbei, ließen dabei die eine oder die andere klingende Münze in ihre Hand fallen. Hasteten dann, ohne je die Frau zu ihren Füßen eines Blickes zu würdigen, weiter. Die Bettlerin nahm diese Münzen wortlos an, steckte sie in ihre Tasche und sah dabei weiter starr auf den Boden.
So ging es tagaus und tagein. Rilke beobachtete dieses Treiben. Dann hatte er eine Idee und brachte am Tag eine Rose mit. Behutsam legte der die gelb blühende und zart duftende Blume der Bettlerin  wie ein Juwel in deren geöffnete Hand. Diese schloss sich langsam um den Stengel der Rose. Momente vergingen.  Dann hob die Frau den Blick, schaute Rilke mit Tränen in den Augen an und bedankte sich. Ihre Seelen begegneten sich in diesem Augenblick für einen Wimpernschlag. Rilke lächelte sie  an und die Frau lächelte zurück. Dann stand sie auf, dankte Rilke und ging.
Die Menschen, die ihr immer einen Almosen gegeben hatten, sagten verwundert:
„Das ist uns vollkommen unverständlich. Wir haben ihr Geld gegeben und nie Dank erhalten. Du kommst und gibst ihr nur eine Rose und sie bedankt sich derart bei dir.“

Rilke lächelte versonnen und meinte:

„Gebt ihr Liebe, anstatt Geld.“

Diese Geschichte berührte mich tief  und hallte lange in  mir nach. Genau wie der Begriff Bettlerin. Damit verband ich gescheiterte Existenzen. Menschen, die ein normales Leben –  was auch immer das ist – weit hinter sich gelassen hatten. Bis zu jenem Tag, als ich einen Spruch von Martin Luther las:

Wir sind alle Bettler

Da hatte ich wieder viel zu denken.  Und in diesem Sinne gab ich mich meinem denken hin und erinnerte mich an Situationen in denen ich selbst bedürftig war. Augenblicke in denen ich  um Hilfe bitten, und wie es mir erschien, betteln musste. Es fiel mir schon immer leichter zu geben, als anzunehmen. Oder gar um etwas zu bitten. Aber ich lernte das zum Glück.
Und dann dachte ich weiter darüber nach, was drinnen und was draußen von unserer Gesellschaft ist. Das wir alle Teil des Ganzen sind. Mal nehmen wir, wie beispielsweise als Kinder, Arbeitssuchende, Kranke, Sterbende …. Liebende …. und uns wird gegeben. Und dann sind wir wieder die Gebenden, wenn wir erwachsen, gesund und neu ins Leben geboren sind. Unterstützen im ewigen Kreislauf des Lebens unsere Kinder, die Eltern, die Mitarbeiter, die Kunden, die, die wir lieben und geben wieder zurück.

Rilkes Geschichte lebendig werden lassen

Mein Leben hätte auch ganz anders verlaufen können, wenn mir an manchen Weggablungen, die glücklichen Fügungen oder Menschen, die mir weiter geholfen haben, gefehlt hätten. Das möchte ich niemals vergessen. Eine glückliche Fügung ist, dass es die Bundesagentur für Arbeit gibt. Sie war in Zeiten für mich da, wo sich derbe Dellen in meinem Leben auftaten, die es zu überbrücken galt. In anderen Ländern, wie beispielsweise in Ungarn, fällt der Mensch nach kurzer Zeit ins Bodenlose.
Nun, lange Rede kurzer Sinn. Es kam der Tag, an dem ich nach vielen Jahren in unterschiedlichen Angestelltenverhältnisse auf selbst – und ständigen Füßen stehen wollte. Ich hatte eine ICH-AG gegründet und wurde vom Amt in den ersten drei Jahren unterstützt. Das half mir,  denn ich wußte erst einmal fundamentales abgesichert. In diesem Moment, am Tag bevor meine Selbstständigkeit beginnen sollte,  hatte ich den Herzenswunsch, nie wieder in dieses Amt kommen zu müssen. Meinen Wunsch wollte ich mit einer Geste verbinden, die meine Dankbarkeit für die geleistete Hilfestellung ausdrückt.
Da fiel mir Rilkes Rosengeschichte wieder ein und meine Freude mich zu verkleiden. Das passte gut zusammen, genau wie der Umstand, dass es immer gut ist, jemanden zu kennen. Ich kannte jemanden und auf diese Weise bekam ich 250 Rosen zu einem wirklich feinen Preis. Die wollte ich im Amt verteilen. Sowohl unter den Angestellten, als auch unter den Arbeitssuchenden und Arbeitgebern.

Unterlassen Sie dieses marktübliche Treiben

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BiographinIW vor dem Amt, Foto privat

An meinem letzten Tag als Arbeitssuchende,  Ende November 2003, machte ich mich denn mit zwei Freundinnen, die mich beim Tragen der 250 langstieligen gelben, weißen und roten Rosen unterstützten und die Aktion in Bildern festhalten wollten, auf den Weg. Frohgemut ging ich zuerst ins Foyer des Amtes und verschenkte dann meine ersten Rosen ans staunende Publikum. Viele schauten zweimal hin. Es war acht Uhr und möglicherweise glaubten sie an eine Sinnestäuschung. Dann wurde ich erst einmal von einem Beamten mit stechenden blauen Augen und innerer Habachtstellung mit den Worten:

„Unterlassen Sie dieses marktübliche Treiben und gehen Sie!“

ausgebremst. Ich meinte:

„Dann hole ich mir eine Erlaubnis.“

Ganz in Tucholskys Tenor:

„Deutsches Schicksal – vor einem Schalter zu stehen. Deutsches Ideal – hinter einem Schalter zu sitzen“, meinte er:

„Ich bin derjenige, der das zu bestimmen hat.“

Darauf konnte ich nur sagen:

„Das werden wir ja sehen.“

Die Sterne standen günstig für mich, denn wenig später lief ich dem damaligen Direktor der Agentur in die Arme. Erzählte, warum und wieso und weshalb ich das denn machen will. Er hörte mir mit einem wohlwollenden Lächeln zu und so bat ich darum, meine Rosen weiter verteilen zu dürfen. Nachdem er sich erkundigt hatte, wohmit ich mich denn selbst und ständig machen wollte, erlaubte er mir, weiter durch die Säle des Amtes zu tanzen. Nun war ich es, die lächelte und ihm dankbar eine Rose, verbunden mit einem leichten Knicks, ihm dabei in die Augen schauend, überreichte.

Was folgte, war köstlich und berührend,

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BiographinIW verteilt Rosen, Foto privat

so dass ich es nie vergessen werde. Ich ging wieder dorthin, woher ich kam, öffnete die Türen zu jenem großen Saal, in dem unzählige Arbeitssuchende vor ihren Bildschirmen hockten und nach Stellen suchten. Vielen von ihnen stand im Gesicht geschrieben, dass ihnen der Glaube fehlte, wirklich eine passende Stelle zu finden. Hin – und wieder drehte ich mich im Kreise, legte mal hier und mal dort eine Rose auf eine Tastatur. Blickte den Menschen dabei lächelnd in die Augen. War gerührt von dem,  was auf mich zurück strahlte. Da gab es sprachloses Erstaunen,  inneres aufleuchten von Seelen, so als hätte jemand gerade eine Kerze angezündet. Aber auch Leute deren Gesichter sich von starren, stumpfsinnig schauenden Masken in lächelnde Menschen verwandelten.
Mein Weg führte mich durch unzählige Gänge, vorbei an den Psychologen vom Dienst, die wohl gerade von einer Besprechung kamen und mich anschauten, als wollten sie gleich die Männer mit den weißen Jacken holen. Meine Rosen nahmen sie dennoch an und bedankten sich.
Ich traf aber viele junge Leute, die noch ganz und gar frohen Mutes in die Zukunft schauten.
Eine Angestellte kam mit einem Wagen voller Akten an mir vorbei. Sofort legte ich  einige Rosen darauf, bedankte mich bei ihr für die Unterstützung. Erzählte dann zum 33x auf die Frage nach dem „Wieso und warum?“ meine Geschichte. Die Frau antwortete:

„Ich bin jetzt schon mehr als zehn Jahre hier. Aber es hat sich noch niemand bedankt.“

Der eine oder andere Arbeitssuchende schaute mich an als wolle er fragen:

„Wo muss ich etwas unterschreiben, weil sie mir etwas schenken?“

Andere lächelten und sagten einfach nur:

„Danke.“
Ich traf auch eine ehemalige Kollegin, die in Tränen aufgelöst zum ersten Mal in ihrem Leben hier einen Antrag auf Unterstützung stellte. Es war auch ihr erstes Mal, dass sie um Hilfe bitten musste, wie sie gestand. Und das nach mehr als dreißig Jahren Arbeit in einem Unternehmen. Meine Rose zauberte ein kleines Lächeln in die Tiefe ihrer Traurigkeit. Nachdem ich ihr noch ein paar aufmunternde Worte mitgegeben hatte, zog es mich weiter …
Eine glaubt ja kaum, wie viele Zimmer so ein Amt haben kann und wie viele Etagen. Irgendwann hatte ich Fusseln am Mund und es war mir unmöglich auch nur noch ein Wort zu sagen, weil ich so oft wiederholt hatte, warum und wieso und weshalb ich tat was ich tat. Deshalb tanzte ich weiter durch die Gänge, öffnete einfach die Türen, ging hinein, drehte mich lächelnd mit meinen aus sieben schwingenden Röcken bestehenden Kostüm im Kreise. Dann legte ich lächelnd eine Rose auf die jeweilige Tastatur, verbeugte mich und ging rückwärts wieder hinaus…
Irgendwann nach ein paar Stunden hatte ich die letzte Rose verteilt, hatte vielen Menschen eine Freude gemacht. Ich selbst fühlte mich glückselig.
Die Erinnerung an dieses Erlebnis ist immer noch,  zehn Jahre danach, unglaublich präsent in mir. Jedes mal wenn ich daran denke, muss ich lächeln.

Ihnen ein gutes Leben!

 

7 Antworten auf Eine Geschichte über Rosen und die Liebe

  • Danke – für diese zutiefst ehrliche Geschichte. Darin offenbart sich das Misstrauen der Menschen, wenn ihnen – ohne direkte Vergeltung – gegeben wird. Wir haben noch viel zu lernen!

    • BiographinIW sagt:

      Liebe Frau Schöbitz,

      Gern habe ich diese Geschichte mit Ihnen geteilt, Neben dem Misstrauen von ein paar Menschen gab es ja überwiegend einfach viel mich überwältigende Dankbarkeit in Worten und Zeichen. So wie sie das Pärchen oben auf dem Bild ausstrahlt.
      Die Dinge mal in einem anderen Licht zu sehen und sich freuen über das was ist.
      Aber ich bin mit Ihnen, wenn es heißt, „Wir haben noch viel zu lernen.“ Ein Kunde von mir sagte mal: „Lernen gehört für mich wie atmen zum leben. Wenn ich aufhöre zu lernen, sterbe ich.“ Das empfinde ich auch so . Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit.
      Mit guten Grüßen
      BiographinIW

  • Branka T. sagt:

    Was für eine schöne Lebensgeschichte und so passend zur Vorweihnachtszeit! Liebe und Dankbarkeit in Form von Rosen dort zu verteilen, wo es meistens um Amtsschimmel, Verzweiflung und Ärger geht. Dabei gibt es sehr viel Gutes in unserem System, wofür wir dankbar sein können. Danke, liebe Irene Wahle für diese schönen Zeilen.

    • BiographinIW sagt:

      Liebe Branka,

      danke für die virtuellen Blumen für eine meiner Lebensgeschichten.
      Ja, das stimmt in unserem System gibt es viel Gutes und es ist gut, sich das immer wieder vor Augen zu führen.
      Auch möchte ich mich immer daran erinnern, meinen MItmenschen immer auf auf Augenhöhe zu begegnen und alle Menschen wert zu schätzen.
      Einen schönen vierten Advent wünsche ich.
      Irene

  • Birgit sagt:

    Vielen Dank für diese berührende Geschichte, habe Gänsehaut. Das haben Sie mit viel Herz getan. Ja, wie sagte schon Th. Heuss? „Dankbar sein zu können ist eine Tugend.“ Wir müssen uns ständig darin üben. Liebe Grüße Birgit

    • BiographinIW sagt:

      Hallo, Birgit,

      vielen Dank für Ihren Kommentar und ich freue mich, dass eine zehn Jahre alte Begebenheit Sie im Heute so berühren konnte. Der Gedanke von Theodor Heuss ist klug. Wenn wir uns einmal darin geübt haben, wird das dankbar Sein zum Selbstläufer…. so ist es jedenfalls bei mir. Zu großen Teilen bin durch die Unterstützung meiner Mitmenschen die geworden, die ich heute bin und das möchte ich nie vergessen….
      Ihnen alles Gute auf den Pfaden Ihres Lebens …
      BiographinIW

  • Pingback: Was ist Erfolg (2) | Blog BiographinIWBlog von Biographin Irene Wahle

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